DER HACKEPETER

Vom Struwwelpeter 


Der Struwwelpeter fasziniert. Er polarisiert. Ist grotesk und grausam.
Giftig und anziehend. Eine verbotene Frucht. Ein böses Buch und weltweit
erfolgreicher Kinderschreck. Dabei von seinen kindlichen Lesern über
Generationen geliebt. Von immer wieder neuen Autoren kopiert, zitiert
und adaptiert. So steht dieses Buch seltsam unverwüstlich über Zeit und
Raum.

Als Meisterwerk schwarzer Pädagogik führt der Struwwelpeter ein
Konstruktionsprinzip vor, das längst zum Handwerkszeug auch politischer
Verführung geworden ist: Es macht uns zu Komplizen. An keiner Stelle
Belehrung, die mit spitzem Finger auf den Leser zeigt. „Du darfst nicht

“, „Du sollst nicht 
“, „Und die Moral von der Geschichte 
“: alles das
gibt es hier nicht. Vielmehr gehört es zu Hoffmanns Pädagogik, dem Leser
auf Augenhöhe zu begegnen. Gerade darin mag ein wesentliche Erklärung
für den anhaltenden Erfolg des Struwwelpeter liegen: Schon als Kinder
mögen wir es nicht, belehrt zu werden. Aber wir lieben es, zwischen
vermeintlich Richtigem und Falschen zu unterscheiden und auf dieser
Grundlage über andere zu richten. 

Genau in diesem Sinne macht uns der Struwwelpeter zu Richtern:
„Geschieht ihm recht“, „selber schuld“, „Das hat sie jetzt davon“ – so
die vorhersehbaren Reaktionen. Der Struwwelpeter gibt keine Antworten.
Er fragt. Wir antworten. Der Struwwelpeter ist Ermächtigung. 

Bei alledem bleibt das Buch an seinen unterschiedlichen Protagonisten
auffallend uninteressiert. Kontext Fehlanzeige. Alles konzentriert sich
auf die Tat und ihre Folgen, Ursache und Wirkung. Auch das hat die
Vorlage für unzählige Adaptionen attraktiv gemacht. Darunter bereits
früh und dann mit großer Regelmäßigkeit politische und militärische
Sujets: so der Politische Struwwelpeter (1849), der Militärstruwwelpeter
(1877), der Kriegsstruwwelpeter (1915), später dann der britische
Struwwelhitler (1941). Offensichtlich war das propagandistische
Potenzial des Struwwelpeter von jeher mehr als ein Geheimtipp unter
Autoren.



zum Hackepeter

An dieser Stelle setzt dann auch die vorliegende Inkarnation des Stoffes
im Hackepeter an. Die Fotomontagen von Harald Reusmann und die Texte
von Stefan Haver verweisen nicht allein auf die Ursprungsfassung von
Hoffmanns Struwwelpeter, sondern mehr noch auf die toxische
Rezeptionsgeschichte als Kriegspropaganda. Bezugspunkt ist der Erste
Weltkrieg als erste industrielle Tötungsmaschine und Ur-Katastrophe des
20. Jahrhunderts. Entstanden ist eine Groteske, die wie die Vorlage dazu
einlädt, das Urteil selbst zu fällen. Ein Panoptikum der Absurditäten
und Monstrositäten, unter Verzicht auf jede Art von Anti-Kriegs-Lyrik. 

Jede Episode behandelt dabei historische oder soziale
Kontextinformationen. Anders als bei Hoffmann liegt der Fokus nicht auf
Ursache-Wirkung-Beziehungen, sondern auf dem Verständnis der handelnden
Personen in ihrem Umfeld. Stärker als der Bezug zu den Originalversen
ist die Anlehnung an historische Ereignisse: von der Hunnenrede Kaiser
Wilhelms II, über Kriegsverbrechen zu Lande, zu Wasser und in der Luft,
bis hin zu Hunger, Leid und Elend auch an der sogenannten Heimatfront.
Um diese große Spannweite abzudecken, geht der Hackepeter über die Zahl
der Original-Episoden hinaus. Er schlägt damit ein neues Kapitel in der
drei Jahrhunderte überspannenden Rezeptionsgeschichte des Struwwelpeter
auf.

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